- Ungarn: Monarchie ohne Monarchen
- Ungarn: Monarchie ohne MonarchenUngarns Weg in die Eigenstaatlichkeit war im Revolutionsjahr 1918 von heftigen internen Parteienkämpfen und einem bedrohlichen Aufmarsch fremder Truppen begleitet. Dem Beispiel der anderen Nationalitäten in der Donaumonarchie folgend, hatte am 31. Oktober 1918 ein Nationalrat, der wenige Tage zuvor von den Sozialdemokraten und den Bürgerlich-Radikalen gegründet worden war, die Regierungsverantwortung übernommen. Der neue Ministerpräsident Graf Mihály Károlyi von Nagykárolyi brachte gut gemeinte Reformen und fortschrittliche Gesetzesinitiativen auf den Weg; dem Zerfall der öffentlichen Ordnung und der katastrophalen Verschlechterung der Lebensbedingungen vermochte er nicht Einhalt zu gebieten. Károlyi fand auch nach der Ausrufung der Republik am 16. November 1918 als Präsident der Republik nicht die erhoffte Unterstützung der Entente. Die alliierte Forderung nach einer Sicherheitszone an der ungarisch-rumänischen Demarkationslinie und einer weiteren Rückverlegung der ungarischen Truppen zwang Károlyi am 21. März 1919 zum Rücktritt.Räterepublik und GegenrevolutionAngesichts der innenpolitischen Situation und der akuten Bedrohung der nationalen Existenz stimmten die Sozialdemokraten einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten zu, lösten damit aber eine radikale Linkswendung in der ungarischen Politik aus und mussten schließlich das Ruder aus der Hand geben. Ein »Regierender Revolutionsrat« rief am 22. März 1919 eine Räterepublik aus. Treibende Kraft war der Kommunistenführer Béla Kun. Die Räteregierung verstand sich im marxistischen Sinne als Organ der Diktatur des Proletariates und bemühte sich in einem hektischen Gesetzgebungsverfahren um die Umsetzung der revolutionären Zielvorgaben. Rumänische Truppen aber stürzten mit ihrem Marsch auf Budapest die Rätediktatur am 1. August 1919.Mit alliierter Rückendeckung und im Schutze der rumänischen Besatzungstruppen hatte im Umkreis der antikommunistischen Gegenregierung in Szeged eine Neuformierung der ungarischen Rechten begonnen. Sie fand in dem letzten Oberbefehlshaber der österreichisch-ungarischen Kriegsflotte, Admiral Miklós Horthy (auch Nikolaus Horthy von Nagybánya), und in Gyula Gömbös von Jákfa zwei militärische Führungspersönlichkeiten, die die gegenrevolutionären Kräfte sammelten. Beide nahmen es hin, dass der »weiße Terror« monatelang im Land wütete und wahllos das blutige Geschäft der Abrechnung mit den innenpolitischen Gegnern besorgte.Horthy war am 16. November 1919 mit seiner Nationalen Armee in Budapest eingerückt. Die Sozialdemokraten boykottierten aus Protest gegen die willkürlichen Verfolgungen die Wahlen zur Nationalversammlung am 25. Januar 1920 und verhalfen damit der Partei der Kleinen Landwirte zu einem beachtlichen Stimmenanteil von 40 Prozent. Diese vertrat die Interessen der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung, die von der allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen besonders hart betroffen war. Unter den bestehenden Machtverhältnissen waren allerdings ihre Einflussmöglichkeiten auf die Neugestaltung des politischen und gesellschaftlichen Systems beschränkt. In der »Idee von Szeged« formulierten die konservativen und antirevolutionären Kräfte ihre Grundvorstellungen, die von der Ablehnung von Kommunismus, Judentum, Liberalismus und Freimaurertum getragen waren. Horthy als Hoffnungsträger dieser Kräfte fühlte sich zugleich als Treuhänder der Königsmacht und ließ sich am 1. März 1920 in dem von Truppen umstellten Parlament zum Reichsverweser wählen. Die ungarische Volksvertretung hielt zwar am Fortbestand der Monarchie fest, widersetzte sich aber einer Anerkennung der Thronrechte Karls IV. Gegen dessen zweiten Versuch, seinen Thron im Handstreich zurückzugewinnen, bot Horthy im Oktober 1921 bewaffnete Einheiten auf. Das Parlament fügte sich schließlich dem Druck der Entente und stimmte am 6. November 1921 der Entthronung der Habsburger zu.Zum Trauma aller Ungarn wurde der Diktatfriede, der am 4. Juni 1920 der ungarischen Delegation im Schloss Trianon zu Versailles ohne Anhörung zur Unterzeichnung vorgelegt wurde. Vom ehemaligen Reich der Stephanskrone verblieb den Ungarn nur noch ein Torso. Das Staatsgebiet schrumpfte auf weniger als ein Drittel seiner ursprünglichen Größe, die Bevölkerungszahl reduzierte sich von 20,9 auf 7,62 Millionen. Ungarn verlor Oberungarn, die nunmehrige Slowakei, und Karpatenrussland an die Tschechoslowakei, das östliche Banat und Siebenbürgen mit dem Szeklerland an Rumänien, Kroatien-Slawonien und Sirmien sowie große Teile der Baranya, die Batschka und das westliche Banat an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Nicht weniger gravierend waren die Reparationsverpflichtungen und die wirtschaftlichen Einbußen. Sie betrafen über 80 Prozent der Eisenvorkommen und der Holzvorräte sowie 58 Prozent des Schienennetzes. Rumpfungarn wurde mit 89,5 Prozent Magyaren zu einer national homogenen Gesellschaft, doch musste ein Drittel aller Magyaren, mehr als drei Millionen, künftig als Minderheit in einem der Nachbarländer leben. Infolge einer Volksabstimmung am 14. Dezember 1921 kam das Gebiet um Sopron (Ödenburg), das vom Burgenland abgetrennt wurde, an Ungarn zurück.Die ungarische Nation reagierte erbittert und enttäuscht mit einem trotzigen »Nie, nie, niemals!« auf das Friedensdiktat. Die Flaggen blieben seither auf Halbmast, Revisionsforderungen wurden für Politiker aller Parteien zu einer nationalen Verpflichtung. Ministerpräsident Graf István Bethlen von Bethlen, ein Calvinist aus einer siebenbürgischen Großgrundbesitzerfamilie, versuchte sich als Mann des Ausgleichs; er schwor seinen früheren liberalen Überzeugungen weitgehend ab, hielt jedoch auch zur äußersten Rechten und zu den Rassenschützlern Distanz. Auf die Konsolidierung der Staatsgewalt bedacht, übte er einen autoritären Regierungsstil aus und setzte im Parlament klare Mehrheitsverhältnisse durch. Er verständigte sich mit den Sozialdemokraten und band die Partei der Kleinen Landwirte in seine neu gegründete Christliche Kleinlandwirte-, Bauern- und Bürgerpartei ein. Diese »Einheitspartei« richtete sich in ihrem Programm an nationalen und christlichen Grundsätzen aus, befürwortete maßvolle Reformen und suchte über ein soziales Grundsicherungssystem den inneren Frieden zu erreichen.Zum beherrschenden Thema der Innenpolitik wurde die Bereinigung der wirtschaftlichen Notlage. Nach dem rapiden Währungsverfall im Krisenjahr 1923 rettete eine Völkerbundanleihe Ungarn vor dem Ruin der Staatsfinanzen. Für anhaltenden sozialen Zündstoff sorgte die ungleiche Bodenverteilung. Sie ließ ein Massenheer von Landarbeitern und Kleinstbauern, ein Land mit drei Millionen »Bettlern« entstehen. Eine einschneidende Bodenreform war aber gegen den Widerstand der herrschenden Klasse nicht durchzusetzen; Mitstreiter im antirevolutionären Kampf wurden bei der Landvergabe bevorzugt mit »Heldengütern« zu 50 Hektar bedacht.Die neue RechteBethlen trat am 19. August 1931 zurück, als die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise die Menschenmassen auf die Straße trieben. Tausenden bäuerlichen Kleinbetrieben war mit dem Verlust der ausländischen Absatzmärkte die Existenzgrundlage entzogen worden. Die neue Rechte drängte mit radikalen Parolen an die Macht und brachte die Regierungspolitik in Misskredit. Ihr Führer, Gyula Gömbös von Jákfa, wurde 1932 zum Ministerpräsidenten berufen. Er steuerte Ungarn in das Fahrwasser Hitlers; nur der Einspruch Horthys zügelte seine offenkundigen Neigungen zum Faschismus.Ungarn suchte in den Dreißigerjahren in der Außenpolitik eine engere Anlehnung an Mussolini und Hitler, um seinen Forderungen nach Grenzrevisionen Nachdruck zu verleihen. Der Erfolg blieb nicht aus: Der 1. Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 bestätigte die Rechte Ungarns auf die ungarischen Siedlungsgebiete in der Südslowakei. Bei der Auflösung der Tschechoslowakei im März 1939 okkupierten ungarische Truppen die Karpaten-Ukraine. Der 2. Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 brachte Nordsiebenbürgen und das Szeklerland zurück.Das Entgegenkommen Hitlers musste Ungarn allerdings mit dem Beitritt zum Antikominternpakt am 13. Januar 1939 und der Teilnahme an den deutschen Angriffskriegen in Südosteuropa und gegen die Sowjetunion teuer bezahlen. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges suchte sich Horthy vergeblich vor der heranrückenden Roten Armee von seinem unheimlichen Verbündeten wieder zu trennen. Er musste am 19. März 1944 die Besetzung des Landes durch deutsche Truppen und die Deportation der Juden durch Adolf Eichmann hinnehmen. Horthy wurde entmachtet, als seine geheimen Waffenstillstandsverhandlungen mit der sowjetischen Führung ruchbar wurden und die ungarischen Truppen am 15. Oktober 1944 von ihm den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen erhielten. Die leidgeprüften Ungarn mussten danach noch bis zum vollständigen Abzug der deutschen Truppen am 4. April 1945 das Terrorregime der faschistischen Pfeilkreuzler des Ferenc Szálasi erdulden.Prof. Dr. Edgar HöschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Ungarn: Vom Reformsozialismus zu Demokratie und MarktwirtschaftGrundlegende Informationen finden Sie unter:Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der DonaumonarchieBogyay, Thomas von: Grundzüge der Geschichte Ungarns. Darmstadt 41990.Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, herausgegeben von Péter Hanák. Beiträge von Kálmán Benda. Aus dem Ungarischen. Budapest 21991.A history of Hungary, herausgegeben von Peter F. Sugar u. a. Neudruck Bloomington, Ind., u. a. 1994.Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867-1983. Stuttgart u. a. 1984.Macartney, Carlile A.: Hungary and her successors. The treaty of Trianon and its consequences 1919-1937. Oxford 1937. Nachdruck London u. a. 1968.Macartney, Carlile A.: October fifteenth. A history of modern Hungary, 1929-1945. 2 Bände. Edinburgh 21961.
Universal-Lexikon. 2012.